„Sterben zu enttabuisieren und zuzulassen“

Franz Müntefering weiß genau, wie er einmal sterben will: „Ich würde mir wünschen, dass ich sehen kann, dass es aufs Ende zu geht. Ich will auch dieses Stück Leben bewusst  und auch noch mit denen erleben, die ich mag. Möchte noch abschließend in Gesichter schauen und Hände schütteln können.“ So gelassen stand der ehemalige Vize-Kanzler und Ex-Minister dem eigenen Tod nicht immer entgegen. Noch vor 30 Jahren hätte er den plötzlichen Tod vorgezogen: „Am besten – einfach umfallen.“ Dieses Umdenken liegt darin begründet, dass er das Sterben aus nächster Nähe erlebt und begleitet hat: „Mein Vater ist „normal“ gestorben, meine Mutter und meine Frau auch – warum eigentlich ich nicht?“ Der Vorsitzende des Arbeitersamariterbundes warb im Rahmen der dritten Ausgabe der Kooperationsreihe 360° von Infineon Technologies und der VHS Lippstadt dafür, „Sterben zu enttabuisieren und zuzulassen“. Rund 100 Zuhörer hatten am Donnerstag den Weg ins Infineon-Forum gefunden – „zu einem nicht ganz einfachen Thema“ wie Pressesprecher Jörg Malzon-Jessen und Frauke Mönkeberg von der VHS in ihrer Einführung betonten.

Franz Müntefering, ehemaliger Vize-Kanzler und Ex-Minister, referierte über das Thema: „Sterben zu enttabuisieren und zuzulassen“

Durch obige persönliche Einblicke und eigene Einschätzungen zum Thema ließ Müntefering den gut einstündigen Vortrag unterhaltsam und alles andere als trocken oder „todernst“ werden.

„Damals in Sundern haben wir, wenn jemand in unserer Straße starb, das noch mitbekommen. Wir haben die Trauer und das Weinen der Angehörigen erlebt. Da sah man den Schmerz, hörte bisweilen noch Schreie – heute sieht doch kein Kind mehr einen Leichenwagen oder Trauerzug. Wir haben das Sterben aus unserer Gesellschaft verbannt – in stationäre Einrichtungen“, begann der ehemalige SPD-Vorsitzende die Wandlungen aufzuzeigen, die in den vergangenen 50 bis 70 Jahren unseren Umgang mit dem Sterben verändert haben.

Nicht das Sterben an sich sei maßgeblich anders geworden: „Das mit dem Sterben ist nicht neu, das gab es immer schon und – das Sterben ist auch nicht schwerer geworden“, betonte der Referent. Manchmal jedoch sorge „unsere Hochleistungsmedizin“ dafür, dass menschliches Leben verlängert und die letzte Zeit zur Qual werde. „Man muss Sterben auch zulassen“, plädierte Müntfering für Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht. Anders als noch vor Jahrzehnten sei auch der Zeitpunkt des Ablebens heute ein späterer. „Wir leben heute deutlich länger, als jede andere Generation vor uns“, verwies der Redner auf ein derzeitiges durchschnittliches Todesalter von 82 Jahren – Tendenz steigend. Auch die „Mobilität der Familien“ führe dazu, dass die letzten Jahre heute oft anders verbracht würden. Selten gebe es noch die Generationenhäuser, in denen die Jüngeren für die Älteren aufkämen. „Unser größtes Problem ist die Einsamkeit und das in einer eigentlich Zeit reichen Gesellschaft“, appellierte Müntefering das Thema früh genug in den Familien zur Sprache zu bringen.

Gesellschaft und Politik hätten diese Entwicklungen zu beachten und versucht Konsequenzen zu ziehen: „In den letzten 50/40 Jähren haben Hospizkultur und Palliativversorgung an Breite und Format gewonnen. Daraus ist eine Sterbebegleitung/Sterbehilfe von Qualität geworden. Was wir bereits geschafft haben, macht mich stolz.“  Die Pflegeversicherung wurde Mitte der 90er-Jahre geschaffen und nun angepasst (5 Gruppen ersetzen die 3 Pflegestufen, Demenzkranke wurden aufgenommen). Vor einiger Zeit entwickelte sich eine Debatte über staatlich geregelte Beihilfe zur Selbsttötung bis hin zur Tötung auf Verlangen. Der Bundestag diskutiere das Thema und will noch in 2015 entscheiden, ob und wie er hierzu neue Gesetze beschließt. Man verzichte wegen der hohen ethischen Wertigkeit auf parteiliche Positionierungen, bereitete Gruppenanträge vor. „Vier dieser Anträge liegen vor. Es gibt zahlreiche Stimmen gegen geschäftsmäßige Sterbevereine/-hilfen. Eine solche ausdrückliche Festlegung würde ich begrüßen. Damit wäre wohl auch das Thema Tötung auf Verlangen beantwortet.“ Zudem gebe es einen Vorschlag, bei begrenzter Lebenserwartung, die ärztlich assistierte Selbsttötung gesetzlich zu erlauben. „Was ist eine „begrenzte Lebenserwartung“? Drei Tage, drei Jahre?  Eierstockkrebs, Diagnose Demenz, Drohung mit Selbsttötung/Suizid – welche Diagnose deutet darauf hin?“, kritisierte der Dozent. „Die Politik sollte keine Kategorien bestimmen, nach denen ein bestimmter Mensch in seiner konkreten Situation „jetzt“ oder „noch nicht“ sterben darf. Jeder Fall ist individuell – so wie der Mensch auch.“   

Für Müntefering liegt der Handlungsbedarf in einem weiteren Ausbau der Hospizkultur und – vor allem – der Paliativversorgung. Letztere machte er mitverantwortlich dafür, dass die Suizide in Deutschland in den vergangenen Jahren stetig abnehmen. „Totale Selbstbestimmung“ beim eigenen Sterben lehne er ab. „In einer Welt zu leben, wo ein Mensch nach belieben gehen kann, finde ich gespenstisch. Außerdem: Situationen ändern sich.“ Anders kann auch die eigene Einschätzung eines Gesundheitszustandes bei zu Pflegenden sein. Müntefering warnte vor falschem Mitleid. „Wenn ich sage, ich kann es nicht mehr ertragen, zu sehen wie meine Mutter hier liegt, kann diese dies ganz anders empfinden.“ Man sollte auch nicht davor zurückschrecken, zu erkennen, wann eigene Grenzen erreicht seien: „Ihr müsst euch nicht opfern für eure Angehörigen. Es hat auch mit Achtung zu tun, zu sagen: Das schaffe ich nicht mehr allein!“

Einen „Riesenrespekt“ habe er vor dem Pflegepersonal, das sich täglich der Herausforderung der Sterbebegleitung stelle. Hier gelte es dem Beruf mehr Wertschätzung entgegenzubringen und die Rahmenbedingungen zu verändern. „Wir brauchen mehr Kräfte in der Paliativmedizin und mehr Zeit. „Da muss man auch mal eine Hand halten können und vom Leben erzählt bekommen, auch wenn es mal länger dauert.“ Hilfsbedürftigkeit solle nicht als „Misslingen des Lebens, sondern als Normalität angesehen werden, die jedem bei der Geburt, den meisten am Ende, fast allen manchmal auch zwischendurch widerfährt und unvermeidlich ist. „Helfen und sich helfen lassen müssen wir bejahen, denn so lebt solidarische Gesellschaft. „Wir sollten auch das Alter lieben wie das ganze Leben und wissen, dass es ein Verlust ist, das Sterben davon einfach abzuschneiden.“

In der abschließenden Diskussion meldete sich auch Dr. Rolf Cramer, ärztlicher Leiter des Krankenhauses „Maria Hilf“ zu Wort und hinterfragte die Aufgabe der kleineren Krankenhäuser in ländlichen Regionen gemäß des Krankenhausstrukturgesetzes. Müntefering versprach sich an „entsprechender Stelle“ für „eine flächendeckend gute Versorgung“ einzusetzen. „Wir müssen dafür sorgen, dass jeder weiß: Du kannst sicher sein, hier wo du lebst, kannst du gut alt werden.“

Text und Fotos: Gaby Schmitz (25.9.2015)

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