Gründung der Stadt Warstein

Zur Gründung der Stadt Warstein vor 40 Jahren schreibt Hermann Kroll-Schlüter, erster Bürgermeister der Stadt Warstein, folgendes:

Die Gründung der Stadt Warstein 1975 und ihre Perspektiven

„Man kann das Leben nur rückwärts verstehen … „

Als Ziel der kommunalen Neugliederung wurde Mitte der 60er Jahre genannt: die Lebens- und Leistungsfähigkeit der kommunalen Selbstverwaltung auf Dauer zu sichern.

Es wurde die Meinung vertreten, die eigentliche Schwachstelle des dt. Verwaltungssystems sei die Zersplitterung der kommunalen Selbstverwaltung. Die kleinen Gemeinden hätten kaum noch Handlungsfreiheit, besäßen weder eine reale Gestaltungskraft noch eine überzeugende Leistungsfähigkeit. Zwar hätten sie, wie es damals hieß, Gemütsvorteile, aber sie seien für eine erfolgreiche Kommunalpolitik zu klein. Es müssten bessere Voraussetzungen für die planerische, funktionale, personelle und finanzielle Bedingung einer erfolgreichen Kommunalpolitik geschaffen werden.

 

In der alten Bundesrepublik Deutschland hatten 90% aller Gemeinden weniger als 5000 Einwohner. In NRW waren es rund 80% der 2343 Städte und Gemeinden. Das Ergebnis der kommunalen Neugliederung: aus 2297 kreisangehörigen Städten und Gemeinden wurden 373, aus 37 kreisfreien Städten 23, und aus 57 Kreisen 31.

Vor der Reform hatten die Kreise im Durchschnitt 40 Gemeinden und fünf Ämter, nach der Reform im Durchschnitt noch 12 Gemeinden und keine Ämter mehr. Die Zahl der Gemeinderats- und Kreistagsmitglieder ging von 33000 auf 17000 zurück. 100 Gemeinden und einige Kreise riefen den Verfassungsgerichtshof in Münster an, fünf hatten Erfolg.

Im alten Kreis Soest gab es 104 Gemeinden, die größte Anzahl von Gemeinden aller 57 Kreise des Landes. Borgeln-Schwefe war das größte Amt mit 33 amtsangehörigen Gemeinden. Dort reifte schon früh die Erkenntnis, freiwillig größere Einheiten zu bilden. Tatsächlich kam es schon 1969 zur Neugliederung des Kreises Soest. Acht neugegliederte Städte und Gemeinden waren das Ergebnis.

Der alte Kreis Lippstadt hielt noch an der Amtsverfassung fest. Im März 1970 beschloss die Landesregierung die Gemeinde- und Kreisreform miteinander zu verknüpfen und bis zum 1. Januar 1975 abzuschließen. Die Kreise Lippstadt und Soest wurden dem Neugliederungsraum Münster/Hamm zugeteilt.

Am 8. Februar 1972 trafen sich mehr als 1000 Frauen und Männer in der Hellweg-Halle zu Erwitte mit der Neugliederungskommission des Landes. Sechs Stunden lang wurde gestritten. Am 9. Juli 1974 nahm der Landtag das sog. Münster-Hamm-Gesetz mit großer Mehrheit an. Nach 160 Jahren hatten die Kreise Arnsberg, Lippstadt und Soest aufgehört zu existieren.

Es ist zu begrüßen, dass die Stadt Warstein heute sowohl zum Kulturregion Hellweg als auch zum Kulturregion Sauerland gehört.

Die kommunale Neugliederung kam auf die Tagesordnung in dem Augenblick, als man erkannte, die beabsichtigte Neuordnung der Bundesländer, das schaffen wir nicht. Auch keine Funktionalreform. Man begann mit der kommunalen Neuordnung. Sinnvoll wäre es gewesen, erst die Länder, dann die Funktionen und danach die Gemeinden neu zu ordnen. Es ist anders gekommen. Wir sind auch damit ganz gut fertig geworden, aber in einem aufgewühlten Prozess der Erörterung von Alternativen. Soll es A- Gemeinden geben, also eine von Warstein, Suttrop und Hirschberg auf der einen Seite und auf der anderen Seite Belecke und die Möhnetalgemeinden. Oder größere von Rüthen bis Niederbergheim einerseits und von Kallenhard bis Hirschberg anderseits. Wer gibt wofür den Namen? Bleiben wir in einem neuen sauerländischen Kreis oder wollen wir uns, wie es ja auch schon viele Menschen täglich tun, nach Lippstadt und Soest orientieren? Hirschberg plädierte für Arnsberg, Allagen trat ein für Soest. So standen wir in der aktuellen Auseinandersetzung und suchten nach einem Konsens. Welche kommunale Neuordnung, welches Ergebnis hat die besten Entwicklingschancen? Was zählt? Die Fakten oder vor allem auch die Gefühle? Die Tatsachen zu ignorieren, wäre schädlich gewesen, die Emotionen zu ignorieren fahrlässig.

Es war in einer Belecker Bürgerversammlung sehr hilfreich, dass der Unternehmer Walter Siepmann und der Schützenoberst Alfred Rüther ein klares Bekenntnis abgaben für einen  neuen gemeinsamen Weg von Warstein und Belecke. Es war nach der Neuordnung sehr hilfreich, dass angesehene Persönlichkeiten aus der Mitte der Bürgerschaft bereit waren, die neue „innere Ordnung“ verantwortlich mitzugestalten – z. B. Heribert Sellmann (Sport) – Heinz Rodehüser (Feuerwehr) – Heinz Mus (Heimat)

Vom 1.1.1975 bis zur Kommunalwahl / Bürgermeisterwahl im Mai d. Jahres gab es einen anzuhörenden Beirat für die entscheidungsbefugten Beauftragten für die „Wahrnehmung der Aufgaben des Rates und des Bürgermeisters“ (Hermann Kroll- Schlüter / Dr. Heinz Weiken) und für die Verwaltung (Willi Klasmeier / Hubert Heppelmann). Wir entschieden das, was nicht aufgeschoben werden konnte.

Die neuen Möglichkeiten und Herausforderungen waren es, die uns bewegten. Es war eine Chance und diese Chance ist auch genutzt worden. Warstein hat durch die kommunale Neuordnung gefördert, eine gute Entwicklung genommen. Vor allem lag uns an einer breit fundierten kommunalpolitischen Verantwortung. Deswegen die Stärkung der Ausschüsse mit sachkundigen Bürgern, (mit ihnen gab es nach der kommunalen Neugliederung in Warstein mehr kommunalpolitische Verantwortliche als vorher), deswegen in jedem Stadtteil kompetente Ortsvorsteher, deswegen viele Bürgerversammlungen und Informationen, deswegen eine sehr offene Gesprächskultur. Deswegen auch immer wieder heftige Diskussionen im Ringen um die besten Lösungen.

Die Tagesordnung einer Ratssitzung erklärte ich vorher einer Schulklasse oder einer Gruppe interessierter Bürger. Es wurden Bürgerstunden eingeführt, d.h. Bürger konnten sich in der Ratssitzung zu Wort melden. Neugeordnet werden mussten u.a. die Finanzen, die Satzungen, die Gebühren, die Straßennamen – und die Ortsschilder (Ortsname oben, Stadtname unten).

„Man kann das Leben nur rückwärts verstehen, leben muss man es vorwärts.“ (Sören Kierkegaard.) und „Ein Blick in die Vergangenheit hat nur Sinn, wenn er der Zukunft dient“ (Konrad Adenauer)

Im Wesentlichen haben sich die damals gegründeten Strukturen bürgerschaftlicher Mitverantwortung erhalten. Jetzt müsste mal wieder Neues überlegt und bewegt werden. Es wird oft ein Werteverfall beklagt. Handelt es sich dabei nicht vielmehr um einen Wertewandel? Wer einen Rückgang der Aktivitäten in traditionellen Bereichen beklagt, sollte aber gleichwohl erfreut sein über das Engagement im Projektgruppen und Initiativen. Hier herrscht ein „neuer Wert“: Geben und Nehmen. Vor allem junge Menschen engagieren sich heute seltener dauerhaft, sie engagieren sich aber um so zielstrebiger je konkreter (und kurzfristiger) die angestrebte Lösung zu erreichen ist.

Früher konnten die Parteien in ihrem Wirken und in ihrer Wirksamkeit auf „ihre Milieus“ zurückgreifen: Die einen auf Kolping, die anderen auf IG Metall. Heute sind Netzwerke und Foren ebenso wichtig. Deswegen: Bildet Foren, füllt sie mit Themen und Tatsachen, Meinungen und Medien. Die aktuellen Probleme sollten klein geschnitten und verständlich gemacht werden. In Foren ist es möglich; z.B. die EU Grundrechtscharta in einem Forum Warstein – St. Pol.

Im Blick auf die Osterweiterung könnte das eine neue Partnerschaft Warstein / Wurzen mit einer polnischen Gemeinde bedeuten. In dieser Perspektive wird es in Zukunft auch mehr direkte bürgerschaftliche Initiativen geben, anders ausgedrückt: mehr direkte Demokratie.

Dazu gehören auch neue Verfahren. Ein Verfahrensmodell ist z.B. das Bürgergutachten, auch Planungszelle genannt. Eine Planungszelle ist eine Gruppe von rund 30 per Zufallsverfahren ausgewählte Bürgerinnen und Bürger, die für rund eine Woche von ihren arbeitsalltäglichen Verpflichtungen freigestellt werden, um Lösungsvorschläge für eine vorgegebene Fragestellung zu erarbeiten. Die Arbeit in diesen Planungszellen besteht aus einem Wechsel von fachlicher Information, Diskussion und Bewertungsphasen. Die Ergebnisse werden als Bürgergutachten zusammengefasst und veröffentlicht.

Wenn der Rat für seine schwierigen Entscheidungen eine starke Stütze braucht, dann sollte er einen offenen Prozess so gestalten, dass er die entsprechenden Planungen einer ausgewählten Gruppe aus der Mitte der Bürgerschaft vorlegt. Sie bekommt auch alle anderen Informationen und widerstrebenden Positionen vorgetragen, um so ohne Bindung an irgendeine Vorgabe ein Ergebnis zu finden. Über Parteigrenzen und Interessengruppen hinweg könnten so akzeptable Lösungen gefunden werden.

Wir müssen experimentieren, Neues ausprobieren, aus Erfahrungen anderer für uns Schlussfolgerungen ziehen und immer darauf bedacht sein, eine solidarische Bürgergesellschaft aufzubauen. Die Gesprächskreise zur Agenda 21 lassen erkennen, wie viel Interesse vorhanden ist und welche Möglichkeiten zum Mittun die Bürgerinnen und Bürger haben.

Hinzukommen sollten Würdigung und Wertschätzung der Ehrenamtlichkeit und Freiwilligkeit durch Gutscheine für Theater, Bad, Seminare, Fortbildung etc.

Heute hören wir fast täglich den Aufruf, Mut zur Zukunft zu haben. Um die Zukunft zu sichern, braucht man keine große Verwaltung, aber große Anstrengung. Klare Entscheidungen und viel Information sind notwendig.

Bürgerbüro als Ort der Begegnung und der Information, getragen und gestaltet von Bürgern für Bürger, ausgestattet mit modernen Informationstechniken, bedient von Freiwilligen, anerkannt mit Gutscheinen.

Ehrenamtlichkeit ist keine Verlegenheit. Ehrenamtlichkeit ist kein Ersatz in Zeiten leerer Kassen. Das ist wie mit der Privatisierung. Wenn sie richtig ist, dann ist sie richtig, unabhängig von der Kassenlage. Von der Ehrenamtlichkeit kann man sagen: Sie ist stets zur Entfaltung des Einzelnen und der Gemeinschaft zu fördern und zu fordern.

Es kann nicht nur Fortschritt geben, es muss auch das Bewahren geben. Der Mensch lebt nicht allein vom Fortschritt, er lebt auch vom Vertrauen in das Gewohnte, in das Gewohnte von Nähe und heimisch sein. Den Fortschritt und das Bewahren in eine bekömmliche Balance zu bringen, das wird auch weiterhin die entscheidende Frage sein. Es war interessant und erfreulich zu beobachten, wie nach der kommunalen Neuordnung gerade deswegen (bzw. zum Trotz) ein neues Interesse an der Heimatgeschichte erwuchs, es wurde gefragt und geforscht, gedacht und bedacht, dokumentiert und demonstriert für die Würdigung der Geschichte des eigenen Ortsteils. In dieser Situation mussten und wollten wir aus Überzeugung und Freunde die Geschichte würdigen und damit der neuen Stadt Fundament und Perspektive geben.

Denn: Heimat ist eine der mächtigsten menschlichen Wirklichkeiten. Heimat ist nicht der Traum von der guten alten Zeit sondern eine prägende Kraft. Heimat bedeutet ein Leben aus geistigen Kräften der Kultur, der Geborgenheit und der Verbundenheit. Die geistige Schaffenskraft erwächst aus dieser Bindung an Heimat. Heimat ist nicht eng sondern weit. Heimat schließt nicht ab. Heimat kann man nicht konsumieren, sondern sie muss erlebt und gelebt werden. Heimat will begehrt, gestaltet und vererbt werden. Je mehr die Welt zusammen wächst, umso wichtiger ist die Heimat. Je stärker wir von weltweiten Entwicklungen betroffen werden, jeder einzelne von uns, desto wichtiger ist unsere Verwurzelung zu Hause. Die Welt steht uns offen. Aber gerade deswegen brauchen wir ein Zuhause. Unsere Heimat ist ein Teil der Welt. Sie ist etwas, was uns einen Platz in dieser Welt verschafft. Heimat hält den Blick auf die Welt frei. Auf dieses Heimatbewusstsein sind Deutschland und Europa angewiesen.

Die kommunale Selbstverwaltung ist ein unverzichtbarer Bestandteil des politischen und verfassungsrechtlichen Ordnungssystems der Bundesrepublik Deutschland. Sie gewährleistet ein in Stufen gegliedertes demokratisches Gemeinwesen. Sie stellt wie der Föderalismus eine Ergänzung des Gewaltenteilungsprinzips dar. Durch die kommunale Selbstverwaltung wird die Basis für ein politisches Engagement verbreitert, die Bürger an der Erfüllung örtlicher Aufgaben beteiligt, die problemnahe und bürgerfreundliche Lösung von Verwaltungsaufgaben ermöglicht. Für die allgemeine Politik ist die kommunale Selbstverwaltung von Nutzen, weil sie repräsentative Demokratie im überschaubaren Verhältnis einübt, die offene, konkurrierende Willensbildung der Bürger verbreitert und intensiviert.

In einer gemeinsamen Erklärung von Bundespräsident Johannes Rau und den drei ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog, Richard von Weizsäcker und Walter Scheel anlässlich des 50. Jahrestages der Wahl des ersten Bundespräsidenten, Theodor Heuss, am 12. September 1999, heißt es: „Für die Stabilität und Anziehungskraft unserer Demokratie ist ihre Entfaltung und Stärkung als Lebensform unabdingbar. Wir können und sollen nicht alles vom Staat, von Sicherungssystemen und Großorganisationen erwarten. Erst die Vielfalt der Freiheiten und Verantwortlichkeiten, Initiativen und Engagements, Freiwilligkeit und Verpflichtungen – also eine verantwortungsbereite Bürgergesellschaft – halten das Gemeinwesen zusammen. Darum brauchen wir neben staatlichem Handeln, das gleiche Lebenschancen für alle fördert, das am Gemeinwohl orientierte Engagement möglichst vieler Bürgerinnen und Bürger für soziale, humanitäre, kulturelle und ökologische Aufgaben.“

Hermann Kroll-Schlüter

2000

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