Interessantes und Neues zur jüdischen Familie Ostwald aus Belecke und Sichtigvor

Der Bericht über den jüdischen Friedhof außerhalb der alten Stadtmauern Beleckes in dem zum 1075jährigen Jubiläum herausgegebenen Heimatbuch „Zeitreise“ aus der neuen Buchreihe „Belecke. Lebendige Geschichte.“ hat bei dem Sichtigvorer Heimatforscher Albert Grüne alte Erinnerungen geweckt.

Als Schüler hatte er in den 1970er Jahren auf dem Dachboden seiner Großeltern einen Brief aus dem Jahre 1947 gefunden, der aus den USA an seine Großeltern nach Sichtigvor adressiert war. In dem Brief berichtete Martin Ostwald der Familie Schmidt in Sichtigvor (gt. „Knappmüllers“) über sein Leben in den USA als junger Student an der Columbia University, New York. Der Absender Martin Ostwald war, wie sich später herausstellte, der Urenkel von Menke Ostwald aus Sichtigvor, der 1895 auf dem Belecker Judenfriedhof  beerdigt worden war.

Grabinschrift auf dem Belecker Judenfriedhof von Menke Ostwald

Davor lebte, wie die Ortstradition berichtet, die jüdische Familie Ostwald (auch „Oswald“ geschrieben) jahrzehntelang in Belecke, wo sie dank des ihr zustehenden Bürgerrechts Mitglieder in der der katholischen Kirche eng verbundenen Bürgerschützengesellschaft Belecke stellen konnte.

Dies belegt der nachweisbare Fall des Salomon Ostwald aus dem Jahre 1815.  Menke Ostwald war der letzte Sichtigvorer jüdischen Glaubens, der in Belecke beerdigt wurde. Vermutlich wegen der größeren Bedeutung des Nachbarortes wurde auf dem Belecker Grabstein nicht Sichtigvor, sondern „Mülheim“ vermerkt. Sein Sohn Markus wurde 1914schon auf dem Warsteiner Judenfriedhof beerdigt, und dessen Sohn Dr. jur. Max Ostwald war in Dortmund am Schwanenwall als Anwalt tätig. Da aber die allseits beliebte Gattin von Markus Ostwald, Frau Phillipina Ostwald, noch bis in die 1930er Jahre hinein in Sichtigvor an der Hammerbergstraße lebte (sie wurde 1934 auf dem Warsteiner Judenfriedhof neben ihrem Mann beigesetzt), ergaben sich für die Dortmunder Familie von Dr. Max Ostwald noch viele Kontakte nach Sichtigvor. Seine Kinder Ernst und Martin waren in den Ferien regelmäßig bei der Großmutter zu Besuch und hatten viele Sichtigvorer Spielkameraden.

1921 hatte Dr. Max Ostwald etwa ein Dutzend Sichtigvorer in einem spektakulären Mordprozess vor dem Warsteiner Amtsgericht  erfolgreich verteidigt. Was war passiert? Da eine Entwaffnung der Soldaten nach dem Ersten Weltkrieg nicht stattgefunden hatte, waren viele Waffen auch in Sichtigvor in den Nachkriegsjahren noch im Umlauf.  Sie wurden in der schwierigen Zeit nach dem Ersten Weltkrieg auch dazu eingesetzt, um durch „Wilderei“ den Speisezettel bei einigen Familien zu bereichern.  Am Sonntag, den 3. April 1921, waren ein gutes Dutzend Sichtigvorer zur Hochamtszeit  am Erlenbruch in Sichtigvor zu Schießübungen versammelt. Der seinerzeitige Förster des Belecker Schlosses Welschenbeck hatte wohl Schüsse wahrgenommen und sich angepirscht, um die, wie er meinte, „Wilderer“ zu stellen. Ohne Vorwarnung soll er dann auf einen der „vermeintlichen“ Wilderer, den 21jährigen Sichtigvorer Albert Wrede (1899-1921),  geschossen haben, der dann noch vor Ort verblutete.  Seine Freunde haben den Förster sofort wutentbrannt verfolgt und durch die Möhne vor sich hergetrieben und dabei so schwer verprügelt, dass er später an den Folgen gestorben ist. Dank der Verteidigung durch Dr. Max Ostwald konnte das Gericht einen einzelnen Verantwortlichen für die Tat nicht feststellen und es galt jeweils „in dubio pro reo“ – im Zweifel für den Angeklagten“. Noch heute steht an der Stelle im Wald am Erlenbruch auf dem Weg von Belecke nach Sichtigvor ein Holzkreuz mit dem mahnenden Spruch:

„Wo unbegrenzte Menschenwut
vernichtete mein junges Blut,
da bleib o Wanderer eine Weile
und bet für mich, wenn auch in Eile.“     

Kreuz von Albert Wrede (1899-1921) am Erlenbruch in Sichtigvor

Albert Grüne staunte nicht schlecht, als er eines Tages von seinem Vater (mit gleichem Vornamen) erfuhr, dass dieser seinen Vornamen zum Andenken an Albert Wrede bekommen hatte und er wiederum als Erstgeborener ihn auch tragen sollte.

Nachdem Albert Grüne Mitte der 1970er Jahre den Brief von Martin Ostwald gefunden hatte, zeigte er ihn seinem Großvater Friedrich Schmidt, der zu dem Zeitpunkt auch schon über 85 Jahre alt war. Dieser bat ihn, doch einmal an Martin Ostwald zu schreiben, da er schon lange nichts mehr von ihm gehört habe. Gesagt, getan. Grüne schrieb an Martin Ostwalds alte Adresse von 1947 und war sehr enttäuscht, den Brief 6 Wochen später als unzustellbar zurückerhalten zu haben.  Ein Kontakt schien nicht mehr möglich. Als Grüne fast zehn Jahre später im Amerika-Haus in Köln die Vorlesungsverzeichnisse amerikanischer Universitäten durchschaute, um sich auf ein USA-Studium vorzubereiten, stieß er dort zufällig auf eine Ausgabe von „Who is who in America?“.  Sofort fiel ihm der unzustellbare Brief an Martin Ostwald wieder ein. Nach wenigen Minuten hatte er einen Eintrag über Martin Ostwald und seine aktuelle Adresse in den USA gefunden. Da als Geburtsort Dortmund angeben war, gab es für Grüne keinen Zweifel. Martin Ostwald, dessen Familie ihre Wurzeln in Belecke und später Sichtigvor hat, war inzwischen ein renommierter Professor für Klassische Geschichte an der University of Pennsylvania geworden, mit zahlreichen Forschungsaufenthalten an bedeutenden Universitäten wie der University of Oxford, University of California at Berkeley etc.. Er ist vielfach ausgezeichneter Buchautor und hat u. a. als erster ein bedeutendes Ethikwerk von Aristoteles aus dem Alt-Griechischen ins Englische übersetzt. Martin Ostwald staunte nicht schlecht, als er plötzlich Post aus Deutschland bekam. Bei ihm wurden viele Erinnerungen aus seiner Kindheit im Möhnetal wieder wach und er berichtete Albert Grüne über sein Schicksal und das Schicksal seiner Eltern. Sein Vater hatte es in der Zeit des braunen Terrors gerade noch geschafft, ihn und seinen Bruder nach England zu schicken, um dort das Ende des Nazi-Regimes abzuwarten. Beide Eltern wurden im Konzentrationslager umgebracht, und die Kinder waren von Stunde an auf sich allein gestellt. Mit Hilfe von Verwandten gelang es Martin, in die USA auszuwandern und dort zu studieren.  Da traf es sich gut, dass er gerade eine Ehrendoktorwürde der Universität Fribourg in der Schweiz verliehen bekam und deswegen in Europa weilte. Sofort hatte er einen Abstecher ins Möhnetal eingeplant, wo er noch einige Spielkameraden aus seiner Schulzeit wiedertreffen konnte.  Er hat danach noch einige Male Sichtigvor besucht, auch um seinen Kindern das Haus seiner Großeltern am Hammerberg zu zeigen.

Brief von Martin Ostwald an Albert Grünes Großeltern aus dem Jahre 1947

Das letzte Mal hat er das Sauerland und auch Sichtigvor besucht, als die Universität Dortmund ihm die Ehrendoktorwürde verliehen hatte. Im Jahr 2010 verstarb Martin Ostwald. Noch kurz vorher hatte er – inzwischen 88 jährig – sein letztes Buch veröffentlicht.       

Prof. Dr. Martin Ostwald (gest. 2010)

Übrigens: Der weitaus größte Teil der von dem Buch „Zeitreise“ aufgelegten Exemplare ist bereits verkauft. Sparkasse und Volksbank am Wilkeplatz in Belecke bieten es weiterhin, worüber sich der Kultur- und Heimatverein Badulikum im Belecker Jubiläumsjahr sehr freut, für 14,95 € zum Verkauf an.

(Thomas Schöne) 15.8.2013

 

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